Die generative künstliche Intelligenz (KI) hat erfolgreich in der Welt des Marketings und der Werbung Einzug gehalten. Allerdings stösst diese Technologie nach wie vor auch auf Bedenken.
Bertrand Beauté
Bildrechte: MANGO
Mitten im Sommer, als die Olympischen Spiele alle Blicke auf sich zogen, schaffte es der spanische Modekonzern Mango, von sich reden zu machen. Und zwar mit einer neuartigen Werbung: In einer Modekampagne des Unternehmens sieht man im Hintergrund einen Souk und davor eine junge Frau mit schwarzen Haaren, die für Mangos neue Teenager-Kollektion «Sunset Collection» Werbung macht. Auf den ersten Blick unterscheidet sich das Model in keiner Weise von üblichen Mannequins – Diktat der Frauenmode inklusive. Doch die junge Frau gibt es gar nicht, sie ist ein KI-Model. In einer am 10. Juli veröffentlichten Mitteilung berichtete Mango stolz über den Start der «ersten Werbekampagne, die komplett von künstlicher Intelligenz erstellt wurde». In Wirklichkeit ist Mango jedoch keineswegs das erste Unternehmen, das KI verwendet, um ein Werbeformat zu generieren. So hat die Kommunikationsagentur Ogilvy Paris diese Technologie bereits 2022 benutzt, um das Gemälde «Dienstmagd mit Milchkrug» in einer Werbung für die Marke La Laitière von Nestlé künstlich zu erweitern.
«Die generative KI hat deutliche Auswirkungen auf die Erstellung von Inhalten. Wir sehen immer mehr Werbung, die komplett von KI gemacht wird», betont Alexandre Zilliox, Portfoliomanager bei Thematics Asset Management. Die Zahlen belegen die zunehmende Bedeutung von KI in diesem Bereich: Während 2021 lediglich 29,7 Prozent der befragten Marketingexperten künstliche Intelligenz bei ihrer Arbeit einsetzten, waren es 2023 bereits 40,6 Prozent, wie aus der Studie «How Artificial Intelligence Is Revolutionising Content Marketing» hervorgeht, die die SRH Berlin University of Applied Sciences 2023 zum vierten Mal für Statista durchgeführt hat.
Mango möchte sich mit diesem Experiment bei jungen Menschen als Techbegeistertes Unternehmen profilieren. Doch die Verwendung von KI bietet noch weitere Vorteile. Mit dieser Lösung können Werbetreibende auch erhebliche Kosten einsparen. Sie müssen keine Models, Fotografen und Grafiker mehr bezahlen und keine Fotosessions am anderen Ende der Welt organisieren.
Nehmen wir ein Beispiel: Um für ein neues Fahrzeugmodell zu werben, wird es bald nicht mehr notwendig sein, ein komplettes Team loszuschicken, um das Auto bei einer Fahrt durch die Wüste zu filmen. «Die KI dient auch dazu, automatisch mehrere Bilder für ein und dieselbe Kampagne zu generieren oder eine Videoversion eines Werbefotos anzufertigen», erklärt Jean Meneveau von Colombus Consulting.
Die Internet-Giganten haben sehr wohl verstanden, welch immenses Potenzial in der Anwendung dieser Technologie für die Werbebranche steckt. Im Oktober 2023 brachte Amazon ein KI-gestütztes Tool heraus, mit dem Verkäufer Werbegrafiken kreieren können. Die Firma aus Seattle hatte künstliche Intelligenz zuvor bereits zur Erstellung von Produktbeschreibungen und für den Kundenservice eingesetzt. Meta und Google folgten demselben Trend. Die Muttergesellschaft von Facebook, Instagram und WhatsApp hat im Mai 2023 ihr Programm «AI Sandbox» vorgestellt, mit dem Werbetreibende mittels KI automatisch Werbetexte und -bilder erstellen können. Google folgte einige Tage nach Meta mit seinem eigenen Angebot für automatisch generierte Werbung.
«In der Vergangenheit hat sich Google nicht mit Kreativität beschäftigt. Das war die Domäne der Kommunikationsagenturen», erinnert Alexandre Zilliox. «Aber mit der KI könnte sich das ändern.» Wird das die grossen Agenturen wie Publicis, Omnicon oder WPP in den Ruin treiben? Die Experten, die wir dazu befragt haben, sind geteilter Meinung. «Momentan kommt den Agenturen weiterhin eine zentrale Rolle zu, aber eines Tages werden die Werbetreibenden die KI-gestützten Tools vielleicht direkt benutzen. Das Risiko für die Kommunikationsagenturen besteht darin, dass die Werbetreibenden ihnen langfristig einen Teil ihres Geschäfts wegnehmen und dank KI intern durchführen. Das ist ein denkbares Szenario», meint Humberto Nardiello von DPAM.
Ben James von Baillie Gifford
Ben James von Baillie Gifford teilt diese Ansicht. KI sei ein Gamechanger in der Werbung. Die Big Tech sind seiner Meinung nach gut platziert, um davon zu profitieren. Die klassischen Agenturen liefen ihrerseits Gefahr, ihre Arbeit zu verlieren. «Ich glaube nicht, dass KI die Kreativität töten wird», meint Ludovic Labal von der Bank Eric Sturdza. «Sehen Sie sich an, was geschah, als vor rund 30 Jahren Excel auf den Markt kam. Damals sagten alle, dass die Buchhalter verschwinden würden.
Und letztendlich gibt es weitaus mehr als vorher. Warum? Weil man etwas, sobald es billiger wird, mehr benutzt. Wir werden mehr Werbung sehen, weil die KI die Kosten dafür reduziert. Und das ist letztlich eine recht gute Nachricht für die Agenturen.»
HYPERPERSONALISIERUNG
KI wird nicht nur die Kreativität in der Werbung revolutionieren, sondern auch einen gewaltigen Einfluss auf andere Aspekte des Sektors haben. Laut der Studie «How Artificial Intelligence Is Revolutionising Content Marketing» beeinflusst KI sechs Bereiche des Marketings: die Inhaltserstellung, die Personalisierung, die Prognose von Kundenaktionen, die Analyse von Gefühlen, eine bessere Datennutzung sowie eine Verbesserung der Suchmaschinen.
«Die echte Revolution liegt in der Nutzung von KI zur Hyperpersonalisierung», betont Jean Meneveau. Anstatt eine einzige Werbung für alle anzubieten, ist die Idee, dass jeder Verbraucher eine personalisierte Version erhält. «Die Möglichkeiten der Personalisierung voll auszuschöpfen ist eins der Versprechen von KI. Das ist der Traum der Werbetreibenden und der Albtraum der Verbraucher», ergänzt Ludovic Labal.
Man stelle sich vor, dass in Zukunft in einer Werbung nicht mehr ein Model mit der Kleidung auftaucht, die man kaufen kann, sondern das eigene Gesicht und der eigene Körper zu sehen wären. «Die Personalisierung ist ein Ziel der KI, aber auch ein Risiko», warnt Ben James. «Welche freie Wahl lässt man dem Verbraucher noch, wenn eine Werbung zu stark individualisiert ist?» Noch sind wir nicht so weit, aber mehrere Versuche gehen bereits in diese Richtung. So launchte beispielsweise die amerikanische Kreuzfahrtgesellschaft Virgin Voyages 2023 eine Werbekampagne, bei der Internetnutzer ihren Bekannten und Verwandten ein Video von Jennifer Lopez senden konnten, die sie persönlich zur Buchung eines Aufenthalts auf einem Schiff einlud. Das Besondere daran war, dass die Nutzer die Botschaft, die J.Lo sagte, mittels KI personalisieren konnten. Eine Art Deepfake à la Virgin also. «Die KI ist besonders nützlich, um mehrere Iterationen für ein und dieselbe Kampagne zu erstellen», erklärt Alan Mudie von Woodman Asset Management weiter.
Bereits 2019 ging die US-Bank JPMorganChase eine Partnerschaft mit der Firma Persado ein, um für Kunden mithilfe von KI noch wirksamere, stärker personalisierte Marketingbotschaften zu erstellen, die auf den Bankaktivitäten der Kunden beruhen. Die grösste amerikanische Bank geht jedoch noch weiter: Anfang 2024 kündigte JPMorganChase an, eine Werbeagentur werden zu wollen. Das Versprechen an die Marken? Man will ihnen die Möglichkeit eröffnen, ihre Millionen Kunden mithilfe der Daten, die die Bank über die per Kreditkarte getätigten Ausgaben besitzt, ganz gezielt anzusprechen. Die Bank weiss genau, wo, wann und in welchem Geschäft ihre Kunden normalerweise einkaufen. Eine Fundgrube für die Werbetreibenden, die es ihnen ermöglicht, der richtigen Person die richtige Werbung zum besten Zeitpunkt über den besten Kanal zukommen zu lassen.
GRAL DER KUNDENDATEN
An diesem Beispiel sieht man, wie wichtig es ist, ein breites Kundenspektrum zu haben. «Da Daten im Bereich der Werbung von grundlegender Bedeutung sind, haben grosse Unternehmen einen klaren Vorteil, weil man viele Daten braucht, um relevant zu sein», erklärt Ludovic Labal. Das Ergebnis ist, dass neben den Werbegiganten Google und Meta auch andere Unternehmen dank der Verarbeitung ihrer Daten mittels KI immer stärker von den Werbetreibenden profitieren, wie beispielsweise JPMorgan, aber auch Online-Verkaufsplattformen (Amazon, Walmart, Alibaba), Beförderungs- und Lieferdienste (Uber, Deliveroo) oder Streaming-Plattformen (Netflix, Spotify).
Ludovic Labal, Portfoliomanager bei der Bank Eric Sturdza
Die Werbeagenturen sind angesichts dieses Phänomens nicht untätig geblieben und haben immer mehr Akquisitionen im Datenbereich getätigt. So hat beispielsweise Publicis 2019 für 4,4 Mrd. Dollar das amerikanische Unternehmen Epsilon, die weltweite Nummer zwei auf dem Markt für digitales Marketing und Verbraucherverhalten (CRM), übernommen. «Die Agenturen werden weiterhin Digitaldienstleister aufkaufen», prognostiziert Ludovic Labal. Und bis jetzt funktioniert das. Publicis – weit von einer Krise entfernt – verzeichnet Rekordergebnisse, und der Börsenkurs steigt: Die Aktie des französischen Werbekonzerns stieg im Jahresvergleich um 34 Prozent und überschritt Ende März zum ersten Mal in ihrer Geschichte die symbolische 100-Euro-Marke, bevor sie Mitte August wieder auf rund 95 Euro fiel.
Für Jean Meneveau kommt diese Performance nicht überraschend: «Die grossen Agenturen waren in Sachen Innovationen immer gut. Zudem haben sie in den letzten Jahren reihenweise Datenakteure aufgekauft. 2024 verstehen sie es sehr gut, Daten zu verarbeiten.» Allerdings ist zu beachten, dass die Agenturen zwar über Daten verfügen, aber mit Blick auf die KI nicht so stark sind wie die Big Tech. «Ich bin mir nicht sicher, ob die Werbeagenturen die Mittel haben, um im Bereich der generativen KI langfristig mit den Plattformen konkurrieren zu können. Sie werden gezwungen sein, die Tools der Big Tech zu benutzen, und möglicherweise werden sie für ihre Dienste nicht mehr so viel verlangen können wie früher», vermutet Alexandre Zilliox. Zumal auch die Kampagnenplanung zunehmend von KI unterstützt wird: Sie bestimmt, wo und wann eine Werbung geschaltet werden soll, und verbessert die Effizienz der Kampagnen in Bezug auf die Klick-, Engagement- und Konversionsraten.
Nicht zuletzt wirft der Einzug der KI in die Werbung auch ethische Fragen auf. Nach dem Start von Mangos Kampagne wurde Kritik laut, da viele der Marke vorwarfen, dass sie KI nutze, um Klischees zu verstärken und immer unrealistischere Schönheitsstandards durchzusetzen. Ausserdem «können künstliche Intelligenzen je nach den von ihnen verwendeten Daten gewisse Verzerrungen aufweisen, was dazu führen kann, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen bevorzugt und andere diskriminiert werden. Und das ist ein Problem im Marketing und in der Werbung», betont Ben James von Baillie Gifford. Beim Versuch, diese Klippe zu umschiffen, ist Google ins andere Extrem verfallen. Anfang 2024 wurde seine künstliche Intelligenz Gemini dafür angeprangert, Nazi-Soldaten mit schwarzer oder asiatischer Hautfarbe zu generieren.
Die automatische Erstellung von Inhalten ist auch nicht das einzige Problem am KI-Einsatz in der Werbung. «KI versucht, Kampagnen zu optimieren», erinnert Ben James. «Wird eine KI-gesteuerte Kampagne im Gesundheitssektor die Menschen ansprechen, die das beworbene Medikament am dringendsten benötigen, oder die, die es bezahlen können?»