Die osteuropäischen Länder, die in den letzten 20 Jahren in mehreren Wellen der Europäischen Union beigetreten sind, haben einen phänomenalen Aufschwung erlebt. Hintergründe zu einem besonderen Wirtschaftswunder.
Bertrand Beauté
Es ist genau 20 Jahre her: 2004 wurden zehn Länder, darunter Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn und Slowenien, in die Europäische Union (EU) aufgenommen. Einige Jahre später folgten Bulgarien und Rumänien (2007) und schliesslich auch Kroatien (2013) dem Beispiel dieser Vorreiter im Osten. In all diesen Staaten führte die EU-Integration zu einem grossen wirtschaftlichen Aufholprozess. So stieg von 2004 bis 2022 das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner in Polen um das 2,7-Fache (+170 Prozent), während Frankreich und Deutschland in diesem Zeitraum nur um 30 beziehungsweise 45 Prozent zulegten. Dabei stellt Polen keine Ausnahme dar: In der Tschechischen Republik erhöhte sich das BIP je Einwohner um das 2,4-Fache. Ganz zu schweigen von der "Schweiz des Ostens": Sloweniens BIP je Einwohner übersteigt heute dasjenige von Portugal und Spanien.
Der EU-Beitritt hat bei dieser Entwicklung zwar eine grosse Rolle gespielt, dürfte aber nicht der einzige Grund dafür sein. "Der wirtschaftliche Aufschwung der osteuropäischen Länder hat nicht erst mit der Integration in die EU begonnen", ist Johannes Feist, CEO von Mikro Kapital Management, überzeugt. "Ab 1990 hat der Zusammenbruch der UdSSR dazu geführt, dass sich diese Staaten der Marktwirtschaft zuwendeten und liberale Massnahmen ergriffen, die das Wachstum ankurbelten." Dieser Ansicht ist auch Christopher Howarth, Investmentmanager im European-Equity-Team bei Baillie Gifford: "Polen hat die UdSSR 1990 verlassen und seitdem 34 Jahre in Folge ein Wachstum verzeichnet, was ziemlich bemerkenswert ist."
In der Tat erlebte Polen bis zur Covid-Pandemie kein einziges Rezessionsjahr und stellt damit eine Ausnahme unter den westlichen Ländern dar. Selbst während der Eurokrise 2008/2009 wuchs die Wirtschaft weiter. So konnte die Entwicklung der osteuropäischen Länder also durch die Preisfreigabe und die Privatisierungen bereits in den 1990er-Jahren wieder angekurbelt werden. Die Integration in die EU wirkte dann als Beschleuniger. "Die Mittel, die die EU zur Verringerung der Ungleichheiten zwischen ihren Mitgliedern bereitstellte, haben es den neuen EU-Staaten ermöglicht, ihre Infrastrukturen auszubauen, ihr Verkehrsnetz (Strasse und Schiene) und ihr Bildungssystem zu verbessern", so Christopher Howarth weiter. Polen, der grösste Empfänger von Subventionen aus Brüssel, hat seit 2004 mehr als 250 Mrd. Euro erhalten.
Parallel zur europäischen Integration sind die Investitionen ausländischer Unternehmen in diesen Ländern explosionsartig gestiegen. So hat beispielsweise der französische Autohersteller Renault 1999 die rumänische Firma Dacia übernommen. Und die Begeisterung westlicher Unternehmen für Osteuropa ist mit den Jahren nicht abgeflaut. Auch heute noch machen die Investitionen ausländischer Unternehmen 36 Prozent des polnischen BIP aus (Stand: 2023). So kündigte beispielsweise Intel im Juni 2023 an, bis zu 4,6 Mrd. Dollar in den Bau einer Halbleiterfabrik in der Nähe der polnischen Stadt Breslau zu investieren. Im September 2024 wurde diese Investition allerdings aufgrund der Schwierigkeiten des amerikanischen Herstellers für zwei Jahre eingefroren. Der chinesische Riese CATL baut derzeit in Ungarn in der Nähe von Debrecen für 7,3 Mrd. Euro die grösste Batteriefabrik Europas, während der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall im August 2023 in Zalaegerszeg, ebenfalls in Ungarn, eine Fabrik für Lynx-Panzer eröffnet hat.
"Die osteuropäischen Länder profitieren von einer gut ausgebildeten Bevölkerung und niedrigeren Arbeitskosten und können so ausländische Unternehmen anlocken", erklärt Christopher Howarth. Die niedrigen Löhne in den ehemaligen Ostblockländern waren nach dem Fall der Berliner Mauer in der Tat ein Schlüsselfaktor für ihre wirtschaftliche Entwicklung, und das ist auch heute noch so, selbst wenn sich dieser Vorteil tendenziell abschwächt, weil sich ihre Wirtschaft den westlichen Standards annähert. Der Mindestlohn in Polen beträgt heute 4’300 Zlotys (ca. 1’000 Euro). Das ist immer noch viel weniger als in Frankreich (1’766,92 Euro), aber mehr als in
Portugal (956,67 Euro) und fast so viel wie in Spanien (1’323 Euro).
Langfristig könnte diese Entwicklung den osteuropäischen Ländern schaden. In einer im November 2023 veröffentlichten Studie stellt die französische IÉSEG School of Management fest, dass die Lohnkosten in den osteuropäischen Ländern "seit 2015 weit mehr angestiegen sind als in der gesamten Eurozone". Zwischen dem ersten Quartal 2015 und dem zweiten Quartal 2023 betrug der Anstieg in Bulgarien 67 Prozent, in der Tschechischen Republik 62 Prozent, in Rumänien 46 Prozent, in der Slowakei 38 Prozent, in Slowenien 34 Prozent, in Polen 25 Prozent und in Ungarn 19 Prozent, während er sich in der Eurozone lediglich auf 16 Prozent belief. Die Folge: "Für die multinationalen Konzerne werden die osteuropäischen Länder immer unattraktiver", schreibt die IÉSEG School of Management.
Die osteuropäischen Länder sind jedoch keineswegs nur industrielle Niederlassungen ausländischer Giganten, sondern haben inzwischen ihre eigenen Champions, die sich weltweit einen Namen gemacht haben, darunter der Anbieter von Cybersicherheitslösungen Avast Software (Tschechische Republik), der Videospielentwickler CD Projekt (Polen) oder der Automatisierungsspezialist UiPath (Rumänien). Für die Entwicklung dieser lokalen Unternehmen war der Zugang zum europäischen Markt ein grosser Vorteil. "Mit dem Beitritt zur EU erhielten die osteuropäischen Länder Zugang zum grössten Binnenmarkt der Welt, in dem alle Handelsbarrieren beseitigt wurden", betont Johannes Feist. "Von da an war der enge Binnenmarkt für kleine Länder wie die Slowakei kein Problem mehr." Angesichts der geografischen Nähe zu Deutschland, dem Wirtschaftsmotor in Europa, haben viele osteuropäische Länder an die deutsche Industrie angedockt und von deren Aufschwung profitiert. So absorbiert die stärkste Wirtschaftsmacht in der EU mehr als 25 Prozent der polnischen Exporte.
Johannes Feist, CEO von Mikro Kapital Management
Zu Unrecht. "Die Anleger des Westens ignorieren die osteuropäischen Märkte, und das ist schade", meint Christopher Howarth. "Länder wie Polen verfügen über eine beeindruckende Konzentration an Qualitätsunternehmen. Ich ermutige die Anleger, sich dafür zu interessieren." Auch Johannes Feist geht davon aus, dass es noch nicht zu spät sei für die Anleger, die osteuropäischen Märkte in den Blick zu nehmen. Das Wachstum in diesen Ländern werde noch mindestens fünf Jahre lang über dem EU-Durchschnitt bleiben. Der Aufholprozess ist also noch nicht abgeschlossen. So macht beispielsweise das BIP je Einwohner in Polens BIP pro Kopf beispielsweise liegt weiterhin unter dem EU-Durchschnitt (30’100 Euro gegenüber 37’600 Euro im Jahr 2023).
Aber Vorsicht: Die osteuropäischen Indizes haben in den letzten Jahren zwar höhere Renditen geboten als ihre westlichen Pendants, sind allerdings auch sehr volatil. Der MSCI Poland Index etwa, der die wichtigsten an der Warschauer Börse gehandelten Unternehmen umfasst, verzeichnete 2022 einen Rückgang um 26,76 Prozent, bevor er 2023 um 49,45 Prozent zulegte. Ein emotionales Auf und Ab für einen erfahrenen Anleger. Zum Vergleich: Der MSCI Euro Index, der sich auf die zehn am stärksten entwickelten europäischen Länder konzentriert, verzeichnete 2022 einen Verlust von 11,07 Prozent, bevor er 2023 wieder um 21,87 Prozent anstieg.
Zudem sind in den letzten Monaten einige dunkle Wolken über den osteuropäischen Volkswirtschaften aufgezogen. Deutschland, der wichtigste Partner der ehemaligen Sowjetrepubliken, die inzwischen EUStaaten geworden sind, steckt derzeit in einer Wirtschaftskrise mit einem schwachen Wachstum und einem Rückgang der Industrieproduktion. Ein weiterer Schwachpunkt in sämtlichen osteuropäischen Ländern ist die Demografie. Trotz der Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingen schrumpft die Bevölkerung, während die Arbeitslosenquote bereits auf einem Tiefstand ist (in Polen unter 5 Prozent im Jahr 2023). Die Spannungen auf dem Arbeitsmarkt werden daher immer grösser, und das fördert die Inflation.
Die geografische Nähe dieser Länder zu Russland ist ebenfalls zu einem Problem geworden, seit in der Ukraine der Krieg tobt. "Die osteuropäischen Länder, insbesondere Polen, investieren massiv in den Verteidigungssektor auf Kosten produktiverer Ausgaben, etwa für das Gesundheitswesen oder Bildung", räumt Johannes Feist ein. Schliesslich ist die Wirtschaft der osteuropäischen änder nach wie vor sehr emissionsintensiv und von russischen Kohlenwasserstoffen abhängig. Aber für Johannes Feist ist das kein Grund zur Besorgnis: "Niemand kann vorhersagen, was in der Ukraine geschehen wird" betont der Analyst. "Aber bisher halten die osteuropäischen Länder durch."